Fliegen mit verklebten Federn, wenn das Ende der Therapie noch nicht der heißersehnte Neuanfang ist.
Als ich Josie auf dem Flur der Onko-Ambulanz sehe, schwant mir Übles: Weinend kauert sie auf einem Stuhl. Dabei ist doch heute ihre Therapie vorbei, was ist ihr Problem? Tja, es gibt da eine Krankheitsphase, von der Dir keiner vorher erzählt. Die verflixte dritte Phase. So nenne ich sie.
Josie und das Therapieende
Aber noch mal kurz zurück zu Josie auf den Klinikflur der Onko-Ambulanz.
Sie sitzt dort zusammengekauert auf einem Stuhl. Die Beine hat sie wie zu einem Paket hochgezogen und dicht an ihren Körper gepresst. Sie hält alles mit den Armen fest und schaukelt leicht vor und zurück, zittert und schluchzt. Wir kennen uns von diversen Besuchen im Wartebereich.
Nichts Gutes ahnend gehe ich auf sie zu.
„Was ist passiert?“, frage ich. „Meine Therapie ist zu Ende. Davor hatte ich immer so große Angst, jetzt ist der Tag gekommen und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ohne Therapie habe ich doch niemanden mehr, der sich um mich kümmert. Hier sind alle so nett und ich weiß immer, was als nächstes kommt.“
Sie lässt sich kaum beruhigen. Wir sprechen leise und intensiv. Nichts hilft.
Ich verstehe das alles nicht. Ich wünsche mir nichts sehnlicher herbei als das Ende der Untersuchungen und Behandlungen, der vielen Termine in der Klinik. Erst viel später begreife ich, was sie meint. Sie war offensichtlich vorausschauender, als ich es war.
Die drei Phasen
Nach dem Erhalt meiner Diagnose (Non-Hodgkin-Lymphom, 4. Stadium) war ich fast naiv positiv gestimmt. Ich war der irrigen Annahme, dass ich nach meiner Therapie, den acht Zyklen mit R-CHOEP, alles schnell wieder ins Lot kommen würde. Ich hatte schon so manche gesundheitliche Klippe umschifft und meine Prognose war gut. Danach würde ich einfach dort weiter machen, wo ich aufgehört hatte.
Dass das alles sehr viel länger dauern würde, war mir und den Ärzten nicht klar. Es fielen irgendwann Begriffe wie Therapieversagen, Studienteilnahme, Off-Label-Use und Stammzelltransplantation.
Auch die drei Phasen meiner „Krankheitskarriere“ hatten sich mir noch nicht vorgestellt. Die durchläuft übrigens jede Krebspatientin und jeder Krebspatient, egal welche Diagnose er oder sie bekommt. Ich meine damit:
- Die Verarbeitung der Diagnose und das Treffen der Therapieentscheidung.
- Die Therapie als solche mit ihren verschiedenen Zyklen
- Die Zeit nach der Therapie – das ist die, von der die wenigsten Genaueres wissen, geschweige denn davon berichten.
Die ersten beiden Phasen erschließen sich sofort. Die dritte ist das große Überraschungspaket.
Jede Phase hat ihre Tücken
Die erste Phase ist deshalb so heftig, weil im gefühlten Minutentakt eine schlechte Nachricht nach der anderen auf Dich niederprasselt. Das Tempo der Erkenntnisse ist so viel schneller, als der Verstand erfassen kann. Ein Tag fühlt sich an wie eine Woche Deines Lebens.
Da gibt es so einiges, was neben dem Verarbeiten der Diagnose und der Entscheidung für die richtige Therapie auf Dich zukommt. Nur leider gibt es keinen netten Menschen am Infodesk, der Dich darauf vorbereitet und eine Mappe mit Unterlagen für Dich bereithält.
Das ist übrigens ein Grund, weshalb ich meinen Ratgeber “Warum sagt mir das denn niemand? Was Du nach einer Krebsdiagnose alles wissen musst.” geschrieben habe. Hie der Link.
Für mich war schnell klar, es geht um mein Leben, um mein Überleben. Deshalb habe ich umgehend nach Wegen gesucht, selbst etwas zu unternehmen, zu gestalten.
Der Körper ist der Boss
In der zweiten Phase hast du mit den Abläufen auf der Station, den Bettnachbarn und der Verträglichkeit der Therapie zu tun.
Die Abstände zwischen Erholung und nächstem Zyklus sind oft kurz. Haarausfall, Stimmungsschwankungen, Übelkeit, Fatigue, Ängste, „Chemobrain“ sind nur einige der Nebenwirkungen, die bei fast allen auftreten.
Da lernt jeder schnell: Wenn der Körper nicht will, geht gar nichts, er ist der Boss. Welchen Einfluss Bewegung auf die Verträglichkeit der Chemo, die Fatigue und das „Chemobrain“ hat, habe ich mir angelesen, Studien von der Universität Köln recherchiert und mir ein Ergometer angeschafft. Diese Nebenwirkungen hatte ich (vermutlich daher) nicht.
Was häufig zu kurz kommt, sind Vermeidungsstrategien gegen Nebenwirkungen oder vorbeugende Maßnahmen, die diese abfedern können. Die Heilung hat natürlich höchste Priorität und steht über allem. Das bedeutet aber nicht, dass Nebenwirkungen einfach so hingenommen werden müssen. Wie gut mir dabei Yoga hätte helfen können, wusste ich damals nicht.
Die dritte Phase, oder: Keinen Plan von gar nichts
Wenn das alles überstanden ist, kommt die dritte Phase, die sehr gemein ist, weil sie sich durch nichts und niemanden angekündigt hat und Dich deshalb in ein großes Loch stürzt.
Da fühlst Du Dich wie ein kleines Vögelchen, das aus dem Nest geschubst wird. Obwohl Du noch ein verklebtes Federkleid hast und maximal flattern kannst, sollst Du fliegen. Du bist krebsfrei, hoffentlich. Was stellst Du Dich denn so an? Das fragst Du Dich durchaus auch selbst.
Warum ist das so? Der gewohnte und schützende Rahmen der Therapie ist futsch. Von jetzt auf gleich. Zack!
Du hast keinen Plan von gar nichts. Abschlussgespräch: Fehlanzeige. Niemand schlägt Dir so etwas vor, wie Mind-Body-Medizin (ich habe davon über ein Reformblättchen erfahren), erzählt Dir vom Bochumer-Gesundheitstraining, das dabei hilft, die so wichtige Lebensqualität zurückzuerlangen.
Auch Yoga – und deshalb schreibe ich diesen Text hier für Dich – hilft extrem gut, Dich wieder in ein Leben zurückzuführen, dass Dir Kraft gibt, Dich leuchten lässt und Dir Zuversicht gibt.
Eigene Konzepte entwickeln
Als Patientin, als Patient kommst Du Dir vor, als würdest Du mit einem kaputten Ölkännchen immer nur hinterherlaufen, um Deinen stotternden Motor wieder ans Laufen zu bringen.
Routinen zu schaffen, kann helfen. Spätestens seit Corona wissen wir, was damit gemeint ist und wie wichtig diese sind. Das war das Erste, was ich für mich eingeführt habe, obwohl ich nicht gerade eine Freundin von immer gleichen Abläufen bin.
Ab jetzt bist Du noch mehr gefordert als in den ersten beiden Therapieabschnitten. Hier gibt es keinen standardisierten Ablaufplan, kein Schema, daher bist Du aufgefordert, Dir Deinen Rahmen selbst zu konstruieren. Das hilft übrigens auch sehr gut gegen Ängste und Depression, die sich gerne diese Zeitfenster aussuchen, um sich zu zeigen.
Blutwerte und Tumor, mehr nicht
Du musst selbst herausfinden, was Dir guttut, was Du jetzt brauchst. Die oft zitierte Eigenverantwortung spielt gerade hier eine ganz entscheidende Rolle. Denn auch hier gibt es wieder kein Infopaket. Schade.
Dazu kommt, dass viele Menschen aus Deinem privaten Umfeld denken (wie Du es Dir ja durchaus auch gewünscht hättest): Die Therapie ist vorbei, alles ist wieder gut. Der Phönix steigt aus der Asche auf. Logisch. „Wenn eine das kann, dann Du.“ Falsch gedacht, das Stehaufmännchen hat Ladehemmung.
Die Onkologen schauen „nur“ auf die Blutwerte, den Tumor. „Kommt da wieder was oder haben wir ihn besiegt?“, ist die medizinische Leitlinie. Das Drumherum musst Du selbst managen.
Die Frage nach dem „alten Leben“
Tückisch ist auch, dass (wie oben schon angeschnitten) nach dem Körper die Seele ihren Tribut fordert und genau dann brauchst du Freunde oder eine gute Psychoonkologin. Das ist spätestens der Zeitpunkt, wo die Ängste zuschlagen. Das habe ich selbst erfahren. Dabei dachte ich, ich sei „safe“. Auch die Angst, dass der Krebs wiederkommt, die Angst vor dem Rezidiv, ist ein großes Thema und schwingt immer mit.
Natürlich birgt diese Phase auch große Potenziale, die wir unter dem Stichwort posttraumatisches Wachstum kennen. Ich habe dazu einmal die folgende Frage an 16 Betroffene gestellt: „Möchtest du dein ‚altes Leben‘ vor der Diagnose zurück?“ Die Antworten waren selbstredend sehr individuell. Dennoch sagten fast 90 Prozent der befragten Blogger und Autoren, dass sie ihr altes Leben nicht gerne zurückhätten. Was ihnen allerdings lange Zeit abgeht, ist die Leichtigkeit.
Nebenwirkung und Nachwirkungen
Die Vermeidung von Nebenwirkungen ist für mich eine ganz zentrale Aufgabe. Ich hätte es begrüßt, wenn mir gesagt worden wäre, dass es bestimme Nebenwirkungen gibt, die sich meist erst viel später zeigen, ich sie vielleicht sogar hätte vermeiden können, wenn ich gewusst hätte, wie.
Was Yoga genau in diesem Zusammenhang leistet, habe ich erst so richtig verstanden, als ich Jahre später das Gespräch mit Gaby Nele Kammler für meinen Podcast “Nellas Neuaufnahme” führte. Hier der Link zu unserem Talk.
Das fängt bei den Polyneuropathien an, geht über die Kraftgewinnung, die Muskeln bis hin zur Milderung der Fatigue. Letzteres ist sogar wissenschaftlich anerkannt und bewiesen. Daher ist Yoga auch in die onkologischen Leitlinien der Komplementären Medizin aufgenommen worden. Für die Auswirkungen auf die Muskulatur bedurfte es keines Beweises. Das ist jedem spätestens nach dem ersten kleinen Muskelkater klar.
Ich habe lernen müssen, dass Nebenwirkungen auch sehr „anhänglich“ sein und chronisch werden können und damit einen erheblichen Einfluss auf Deine Lebensqualität haben, die dann unter Umständen, die neuen Taktgeber Deines Lebens sind. Deshalb könnte Yoga ein gutes “Rezept” für Dich sein.
Wenn Du mehr von mir lesen möchtest, dann schau gerne mal im Zellenkarussell vorbei. Tipp: Mache Dir gerne vorher einen Kaffee oder einen Tee, unser Date könnte länger werden.
Mehr Infos zu mir findet Ihr auf meiner Website
Alles Liebe
Die Nella